DDR-Tagebuch
9. November 1989
9. November 1989 – ich stand noch am Anfang meiner fotografischen Laufbahn, gleichwohl gehörte ich schon seit mehreren Jahren zum Team der festen freien Fotografen des STERN. Im Rückblick auf meine eigene, typisch westdeutsche Kindheit kam für meinen Eltern – ohne DDR-Verwandtschaft – eine Reise dorthin überhaupt nicht in Frage. Und selbst in späteren Jahren, als ich bereits als junger Fotograf in Amerika, in Afrika und selbst in der Sowjetunion unterwegs gewesen war, reizte mich nichts zu einer Reise in dieses Land. Die ostdeutsche Republik war für mich Lichtjahre entfernt, quasi ein Niemandsland. Öde, grau, piefig. Ich gehörte zu einer westdeutschen Nachkriegsgeneration, für die die deutsche Teilung außer Frage schien. Eine deutsche Wiedervereinigung war unvorstellbar und gleichzeitig auch gar nicht erstrebenswert.
Ausgerechnet dorthin schickte mich der STERN. Ausgerechnet am frühen Morgen des 9. November 1989 begann für mich eine Reise, die mich Monate in Atem hielt. Während viele Menschen an diesem Tag zum ersten Mal in ihrem Leben die DDR verlassen konnten, gehöre ich wahrscheinlich zu den Wenigen, die an diesem 9. November 1989 zum ersten Mal in ihrem Leben in die DDR einreisten. Als STERN-Team zusammen mit Redakteurin Lisa Trunk begleiten wir den damaligen NRW-Ministerpräsidenten Johannes Rau auf dem Weg nach Leipzig, wo er am Abend des 9. November eine große Ausstellung mit West-Künstlern eröffnen sollte. Früh am Morgen flogen wir nach West-Berlin und überquerten, quasi wenige Stunden vor der Maueröffnung, mit dem Diplomaten-Tross den Checkpoint-Charlie – gen Osten.
Johannes Rau traf auf dem Weg nach Leipzig in Ost-Berlin den damaligen Staatsratsvorsitzenden der DDR Egon Krenz. Keiner von uns, auch nicht der mitgereiste WDR-Intendant Friedrich Nowottny, hatte den Hauch einer Ahnung, dass dies ein Tag von welt-geschichtlicher Bedeutung werden würde, als wir das Politikergespräch hinter verschlossenen Türen abwarten mussten.
»Das tritt nach meiner Kenntnis – ist das sofort – unverzüglich.« Genau an diesem Platz verkündet Günter Schabowski wenige Stunden später mit seinem berühmten Satz die Öffnung der Mauer.
Johannes Rau ahnte nicht, an welch bedeutsamen historischen Ort er danach seine Pressekonferenz abhielt. Ich wusste nicht, dass genau an diesem Pult, auf dem ich respektlos mit meinem Weitwinkel-Objektiv neben Johannes Rau kniete, wenige Stunden später Weltgeschichte geschrieben würde, als Günter Schabowski um 19 Uhr die Öffnung der Mauer verkündete mit dem berühmten Satz: »Das tritt nach meiner Kenntnis – ist das sofort – unverzüglich.«
Wir waren zu diesem Zeitpunkt schon lange – nichts ahnend – in Leipzig angekommen.
»Was machen wir hier eigentlich?«, Ausstellungsmacher Klaus Honnef, Künstler Günther Uecker, Klaus Rinke am frühen Abend des 9. November in Leipzig
Die Eröffnung der Ausstellung Zeitzeichen – Kunst und Kultur aus Nordrhein Westfalen fand im historischen Rathaus von Leipzig statt. Doch trotz der Vielzahl namhafter Künstler, die an diesen Abend anwesend waren, hatte man den Eindruck, keiner interessierte sich so richtig für die Ausstellung, für die Kunst. Man konnte die historische Bedeutung des Moments spüren, die politische Veränderung lag quasi in der Luft, und alle waren eher daran interessiert: Was passiert in den nächsten Tagen, wird es friedlich weiter gehen, oder greift das Regime doch noch zu den Waffen? Die mitgereiste Kulturprominenz wie Günther Uecker und Gotthard Graubner oder auch der Ausstellungsmacher Klaus Honnef standen beinahe deplaziert im Raum, sich fragend, was soll das eigentlich hier in diesem Moment alles?
Die zuvor erwähnte Pressekonferenz in Berlin, auf der Günter Schabowski die Öffnung der Mauer verkündete, hatte bereits stattgefunden. Doch keiner hatte eine Telefonverbindung nach Berlin, Handys oder gar Smartphones gab es noch nicht. Und während die ganze restliche Welt atemlos am Fernseher das Weltgeschehen verfolgte, begann Johannes Rau ahnungslos seine Eröffnungsrede in der Stadt, in der mit den Montagsdemonstrationen eigentlich alles begann.
»Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich wusste nicht, was das hieß.« Johannes Rau bekommt während seiner Rede einen Zettel zugesteckt: Die Mauer ist auf!
Wolfgang Lieb, Regierungssprecher des Ministerpräsidenten Johannes Rau, erinnerte sich an die Situation: »Nach einigen Minuten ging unser Protokollchef auf das Rednerpult zu und steckte Rau einen kleinen Zettel zu. Der Ministerpräsident redete zögernd weiter während er las und hielt dann inne. Er machte eine auffallend lange Pause. Der sonst so wortgewandte Rau, wusste offenbar nicht mehr, was er sagen sollte.«
Johannes Rau selbst sprach 10 Jahre später genau über diesen Moment: »Ich hielt eine Rede über kulturpolitische Fragen. Da wurde mir ein Zettel gereicht. Auf dem Zettel stand: Die Mauer ist auf. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich wusste nicht, was das hieß. Ich wusste nicht: Soll ich die Rede zu Ende halten, soll ich sie kürzen, soll ich das vorlesen? Ich werde das nicht vergessen.«
Leipzig in den Tagen nach dem Mauerfall
Rau hatte sich im Übrigen wohl intuitiv dazu entschieden, diese Information nicht vorzulesen. Und somit verharrte das Publikum dieser Ausstellungseröffnung auch danach weiter im Ungewissen. Erst später, als wir alle in das für Ausländer reservierte Merkur-Hotel zurückkehrten, wurden wir durch das dort laufende Westfernsehen von der Wirklichkeit überrascht: Die Mauer war wirklich auf.
Der Versuch meiner schreibenden STERN-Kollegin, ein Telefonat anzumelden, um mit der Redaktion in Hamburg abzusprechen, was wir machen sollten – ob nach Berlin aufbrechen, oder in Leipzig bleiben – scheiterte vorhersehbar. Wollte doch in dieser Nacht die ganze Welt ihre Verwandten und Freunde in der DDR anrufen...
Erst am nächsten Tag gelang uns eine Kontaktaufnahme, und die Redaktion entschied, dass wir erst einmal in Leipzig bleiben sollten, um das Geschehen der nächsten Tage dort weiter zu verfolgen.
Dezember 1989: Rechtsradikale in der DDR
Durch den Aufenthalt in Leipzig in den Tagen des Mauerfalls im Rahmen des offiziellen Besuchs von Johannes Rau hatte ich Kontakt zu einem der Pressesprecher der DDR Regierung. Er vermittelte mir danach eine Dauer-Akkreditierung als Fotojournalist für die DDR. Obwohl die Mauer gefallen war, hieß das noch lange nicht, dass man als Journalist vollkommen frei einreisen konnte, und somit bedeutete diese unbegrenzte Akkreditierung für mich als Fotograf, dass ich von diversen Magazinen gebucht wurde, um ganz unterschiedliche Stories zu realisieren.
Ein Thema stand direkt nach der Wende ganz oben auf der Agenda der Magazine: Rechtsradikale in der DDR. Eine unglaubliche Vorstellung, im Arbeiter und Bauernstaat, der den Antiimperialismus, den Antifaschismus auf seine Fahnen geschrieben hatte, konnte es doch nicht wirklich rechtsradikales, faschistisches Gedankengut geben. Mit Unterstützung einer Fotografin und eines Fotografen aus Erfurt, die ich auf den Leipziger Montagsdemonstrationen kennengelernt hatte, besuchte ich verschiedene Jugendclubs im Raum Weimar. In Apolda, einer Kleinstadt, an deren Tristesse im Dezember 89 ich mich noch gut erinnern kann, wurde ich fündig.
»Deutschland den Deutschen«, »Ich bin stolz ein Deutscher zu sein«. Möglicherweise gefördert durch meine Anwesenheit als West-Fotograf – aber definitiv nicht von mir provoziert oder gar inszeniert – reckten sich recht bald die ersten Arme zum Hitler-Gruß.
Dezember 1989: Andreasviertel in Erfurt
Während meiner verschiedenen Recherchen und Reportagen im Raum Erfurt durchstreifte ich immer wieder das Andreasviertel in der Altstadt. Der Zustand des historischen Handwerkerviertels mit seinen Fachwerkhäusern war katastrophal. Es hinterließ auf mich einen Eindruck wie nach einem Bombenangriff – ganze Straßenzüge waren zerstört, am Verfallen und unbewohnbar. Man erzählte mir, dass seit den 60er Jahren ein Komplettabriss vorgesehen war, um eine große Ringstraße mit Plattenbauten zu errichten.
In der Zwischenzeit würde man das nun denkmalgeschützte Viertel durch einen sogenannten punktuellen Abriss zerstören: Im Winter würden die Dächer abgedeckt, um die Fachwerkhäuser durch die dann eindringende Feuchtigkeit unbewohnbar zu machen.
Der Fall der Mauer und der wirtschaftliche Zusammenbruch der DDR war quasi die Rettung für das historische Viertel. Es wurde in den folgenden Jahren saniert und erlebte den Aufstieg zu einem der heute beliebtesten Wohngegenden Erfurts.
Als ich bei einer Veranstaltung anlässlich des 25 jährigen Falls der Mauer in unserer Hochschule neben vielen anderen Bildern auch die des Andreasviertels zeigte, löste dies eine große Kontroverse aus: Ein aus der DDR stammender Kollege warf mir vor, damit ein völlig einseitiges und verzerrendes Bild der Wirklichkeit wieder zu geben. Ich kann dem nur entgegnen: Ich bin auch in diesem Falle meiner Devise treu geblieben, das zu zeigen, was ich sehe, was mir auffällt. Auch wenn das selbstverständlich subjektiv geprägt sein mag.
Doch der ruinöse Zerfall – teilweise auch die bewusste Zerstörung – von Häusern und Anlagen in der DDR war derartig augenfällig und signifikant, wie ich es noch in wenigen anderen Ländern erlebt hatte.
Februar 1990: Erste Miss-Wahl nach der Wende in Leipzig
Der Text meines schreibenden Kollegen Andreas Hoidn-Borchers damals im STERN:
Sie heißen Ines, Katrin, Simone und so weiter. 51 Jungsächsinnen im Einteiler, Bikini oder Bodystocking stolzieren über die verspiegelte Tanzfläche des Nachtclubs im Hotel »Merkur«. Sie buhlen, Brust raus, Bauch rein, um den versprochenen Schönheitspreis: Eine Woche Ferien an der Côte d’Azur für »Miss Leipzig«. Und manch eine träumt von der verheißenen Karriere als Modell. Jochen Schneider, Präsident der Agentur »Media London – Black Bulli« zeichnet verantwortlich für das Spektakel. Er und fünf weitere Unternehmer aus Karlsruhe, die in der Jury sitzen, wirken wie Mitglieder der Fleischerinnung bei der Wahl der schönsten Schweinehälfte von Karlsruhe. Sie scheinen unzufrieden.
Am Abend vorher hatte der Clan alle Bewerberinnen in die Nachtbar eingeladen, ganz zwanglos. »Nach zwei Minuten«, erzählt die 23jährige Qualitätskontrolleurin Uta Müller, »kam der Bruderkuss, und dann wurde mit dem Hotelschlüssel gewunken.« Die junge Frau lehnte dankend ab, wie viele andere auch.
Misslungen auch der schöne Plan, die DDR-Dummchen finanziell abzukochen. Dabei hatte der Herr Schneider einen »ganz astreinen« Vertrag entworfen: Die 20jährige Konditorin Diana Klöthe besah sich das Schriftstück bei Licht. Da wurde dann klar, dass sie sich praktisch ein Jahr als nicht näher definiertes »Modell« an die Schneider-Agentur verkaufen sollte. Gage? – das blieb im dunkeln. Wie die meisten anderen Frauen und Mädchen verweigerte sie die Unterschrift, obwohl Schneider beteuerte: »Ich will doch nur helfen. Bei mir sind die rechtlich geschützt, zum Beispiel vor Porno-Verlagen. Die DDR-Mädchen sind ja so unbedarft.« Und die Welt ist so schlecht.
Bleibt noch von meiner Seite anzumerken, dass das Ganze am Schluss in einer quasi Schlägerei endete. Wer da gegen wen handgreiflich wurde, daran kann ich mich nicht mehr so richtig erinnern. Aber es waren ja genug Rotlicht-Gestalten aus dem Westen angereist.
Unterwegs für Wirtschaftsmagazine
Meine zuvor schon erwähnte unbegrente Arbeits-Akkreditierung in der DDR bescherte mir vielvältige Aufträge, auch von Magazinen wie CAPITAL, MANAGER MAGAZIN oder WIRTSCHAFTSWOCHE. – Alles war ja plötzlich in diesem Land für die westlichen Medien interessant geworden.
Produktionsbedingungen wie man sie im Erfurter Robotron-Werk oder im VEB Kombinat Rundfunk und Fernsehen ( RFT) in Staßfurt antreffen konnte, schienen wie aus der Zeit gefallen.
Nach dem Fall der Mauer stellte sich für alle die Frage: Wie kann es weitergehen? Und je nach dem politischen Standpunkt natürlich auch: Wie sollte es weitergehen? Gibt es vielleicht doch noch Alternativen zu Planwirtschaft und kapitalistischer Marktwirtschaft?
Die Themen führten mich damals in viele osteuropäische Länder, ganz besonders aber natürlich auch nach Leipzig oder Dresden. Salto Mortale Herr Direktor war der treffende Titel einer großen Reportage in Leipzig, die sich mit der Zukunft der ehemaligen Kombinate und ihrer Führungskräfte so kurz nach der Wende beschäftigte.
Ostberlin 1990
Der Weg in die DDR führte 1990 eigentlich immer über Berlin – und in der Regel mit dem Flugzeug. ICEs, geschweige denn ein entsprechendes Streckennetz gab es noch nicht, – und das allgemeine ökologische Bewusstsein hinsichtlich Inlandflügen war damals auch noch ein anderes. (Ich habe 1991 sogar einmal eine Geschichte über das sogenannte Beamtenshuttle fotografiert: Beamte aus Bonn, wurden zum Dienst in Ostberlin und den späteren neuen Bundesländern mit einem speziellen Flugdienst der Luftwaffe vom Köln-Bonner Flughafen nach Berlin-Schönefeld geflogen – und abends wieder zurück.)
Auf dem Weg durch Ostberlin spürte man in jenen Tagen beinahe mit jedem Schritt die weltpolitischen Veränderungen. An einem Tag im März, auf dem Weg in den Oderbruch, sah ich beim Vorbeifahren, wie die riesige Quadriga auf dem Brandenburger Tor demontiert wurde. Alles war in diesen Tagen durcheinander, beinahe schon anarchisch. Ich parkte einfach meinen Leihwagen an der Seite und fand den Eingang zum Treppenhaus. Kein Mensch interessierte sich dafür oder störte sich daran, dass ich dann mit mehreren Kameras bewaffnet auf dem Brandenburger Tor herumturnte.
Im Juni kam ich gerade von einem Auftrag aus Senftenberg zurück, als in Berlin-Mitte die Mauer abgebaut wurde. Es hatte so etwas Symbolisches, so etwas positiv Friedliches: Zu sehen, wie die vier Polizisten da zusammen standen und plauderten, dort wo gerade die Mauer abgerissen worden war. Man muss schon genau hinschauen, um zu erkennen, welche sind aus dem Osten, welche sind aus dem Westen.
März 1990: Erste freie Volkskammerwahl
Am 18. März 1990 fand die erste freie Wahl der DDR-Volkskammer statt. Gleichzeitig war es aber auch die letzte, da ein halbes Jahr später Deutschland wiedervereinigt wurde. Ich sollte die Düsseldorfer Alt-Rocker der 60er Jahre-Band The Lords begleiten, die am Wahlabend zu einem Konzert nach Weimar eingeladen wurden.
So euphorisch wie der Besuch für die Lords vor dem Goethe-Schiller-Denkmal in der Weimarer Innenstadt begann, so melancholisch endete der Abend und das Konzert: Alle waren fassungslos und bestürzt über den überraschenden, haushohen Sieg der Ost-CDU bei der ersten freien Wahl in der DDR. Waren denn also die Wähler den Verheißungen und Versprechungen Helmut Kohls auf zukünftige »blühende Landschaften« erlegen.
Revival der 60er Jahre: The Lords aus Düsseldorf anlässlich der ersten freien Volkskammerwahl in Weimar
Juli 1990: Währungsunion in Magdeburg
Am 1. Juli 1990 trat die Währungsunion in Kraft, bei der die westdeutsche DM als offizielles Zahlungsmittel in der noch bestehenden DDR eingeführt wurde. Sie veränderte von einem auf den anderen Tag das Warenangebot in den Geschäften der DDR und hatte für die DDR-Bürger gleichzeitig eine hohe symbolische Bedeutung, wurde sie doch mit dem westdeutschen Wirtschaftswunder und Wohlstand gleichgesetzt. Zusammen mit der STERN-Autorin Lisa Trunk wurden wir als eingespieltes Reportage-Team nach Magdeburg geschickt, um dort das Geschehen zu verfolgen. Wir beobachteten wie am Wochenende im Kaufhaus Centrum das gesamte Warenangebot ausgetauscht und überall die Schaufenster neu dekoriert wurden. Der 1. Juli war ein Sonntag, die Banken hatten geöffnet, um dem Ansturm von DDR-Bürgern gewachsen zu sein, die ihre Ostmark in die DM umtauschen wollten. Den ganzen Sonntag über bestaunte man die neuen Auslagen in den Schaufenstern der Innenstadt. Auch russische Soldaten der Roten Armee waren gekommen und standen insbesondere vor dem Angebot westlicher Unterhaltungselektronik. Für sie war der Anblick noch beeindruckender, hatten sie schließlich im Gegensatz zu den DDR-Bürgern nicht die Möglichkeit gehabt, seit dem 9. November des Vorjahres in den Westen zu reisen.
Am Montag um 9 Uhr öffnete das Kaufhaus Centrum dann die Türen. Eine große Menschenmenge hatte bereits davor gewartet und stürmte danach die Stockwerke des Kaufhauses. Das Bild des älteren Paares, das in der Lebensmittelabteilung verunsichert vor dem westlichen Waren-Angebot steht und irritiert und ungläubig die verschiedenen Margarine-Töpfe in der Hand hält, symbolisiert den Moment: »Rama« als der Inbegriff des westlichen Lebens. Gleichzeitig spürt man die nicht unberechtigte Angst: Was passiert hier mit unserem bisherigen Leben? Durch die Einführung der DM brach die Nachfrage nach in der DDR produzierter Waren schlagartig ein, da die Kunden westdeutsche Produkte vorzogen. Der Niedergang der DDR-Wirtschaft wurde noch einmal zusätzlich beschleunigt.
Bleibt mir noch eine Anmerkung: Die Bilder dieser Reportage wurden nie gedruckt. Denn bei den damaligen Produktionsbedingungen des STERN, der am Donnerstag erschien, musste das Bildmaterial spätestens am Montag Nachmittag in Hamburg sein. Und in Zeiten analoger Fotografie hieß das, die Filme mussten »händisch« in das Labor der Redaktion gelangen. Doch an diesem Montag der Währungsunion herrschte an der Grenze zwischen Magdeburg und Hannover ein solch unfassbarer Verkehrsstau, dass wir es trotz aller Fahrkünste nicht rechtzeitig schafften: Als wir in endlich Hamburg ankamen, war die Geschichte gerade – ohne meine Bilder – in den Druck gegangen. Was mir blieb, war dann ein Schreiben des damaligen STERN-Fotochefs, dem es scheinbar sehr leid tat: »Ich möchte darum den Einsatz zu diesem historischen Wochenende zum Anlass nehmen, Dir ganz herzlich zu danken und Dir zu sagen, dass die Fotos durchaus doppelseitenwürdig waren.« Na denn...
Leipzig im Winter 1991
Die Euphorie aus der Zeit des Mauerfalls, dann der ersten freien Wahlen, der Währungsunion und schließlich der Wiedervereinigung war einer deutlichen Ernüchterung gewichen. Die ausgeschlachteten Skelette der Trabbis standen verwaist am Straßenrand, während die Opel Kadetts gewaschen und poliert wurden.
Rainbow Tours bietet zwar Reisen nach Paris »jetzt wieder ab Leipzig für 69,- Mark« an, aber auf den Leipziger Montagsdemonstrationen liest man Plakate wie: »Arbeitslosigkeit nein danke Herr Kohl«. Die alte DDR-Flagge mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz verwandelt sich plötzlich zu einem mit dem Palästinenserschal kombinierten Widerstandssymbol.
Serie MENSCHEN IN LEIPZIG, März 1991
Nach den vielen Reportagen in der DDR und insbesondere auch in Leipzig in den letzten anderthalb Jahren hatte ich bei meinem Besuch im März 1991 den Wunsch, Menschen auf der Straße anzusprechen und ihre Geschichte aufzuschreiben. Zu hören, wie geht es ihnen, wie fühlen sie sich. Dazu porträtierte ich sie mit meiner Hasselblad in Farbe und im quadratischen Format vor einer möglichst neutralen Wand, die sich irgendwo in der Nähe finden ließ.
Hans-Joachim Krumpe, 61, gelernter Maschinenschlosser, nach Krankheit in Rente: »Hier gleich nebenan ist das WEST-BAD, das ist seit Monaten geschlossen, angeblich zur Renovierung. Man kann nicht mal mehr duschen gehen oder sich baden. Meine Rente ist ganz okay. Aber wenn jetzt eine Mieterhöhung kommt, reicht es nicht mehr. – Früher konnte ich noch in die Kneipe gehen. Das kann ich mir nicht mehr leisten. Ich muss mir jetzt eine Flasche im Laden an der Ecke kaufen und sie zuhause alleine trinken. Dass Sie mit mir sprechen, ist eine Abwechslung seit Tagen! Dass man mit Jemandem spricht!«
Felicitas Neuber, 57, Grafikerin, arbeitslos, verwitwet: »Ich finde mich nicht mehr zurecht. Was soll aus der Wohnung werden, wo soll ich das Geld für die Miete hernehmen? Ich schlafe kaum noch, wache nachts auf.« Sie betont, dass sie nie in der Partei war. Jetzt lebt sie von einem Vorruhestandsgeld von 500 Mark. »Irgendwie war es vorher besser. Man hatte seine Arbeit und seine Wohnung gehabt.«
Heinz Leuschel, 53, Schlosser bei der BBG AG, der Bodenbearbeitungs-Geräte Leipzig AG in Plagwitz: »Die Spannungen werden immer größer, Deutsche untereinander. Irgendwann kommt es zum Krieg. Jedes Gespräch mit Westlern (er betont das Wort j-e-d-e-s) läuft so: Ihr müsst erstmal arbeiten lernen, wir haben auch alle mit 40 Mark angefangen, arbeitet erstmal. – Das verletzt! Schließlich arbeite ich seit 40 Jahren, Tag für Tag, in diesem Betrieb.«
Olaf Heun, 26, arbeitet als Hausmeister in einer Polizeistation. Ich treffe ihn, wie er seinen neuen blauen Opel vor den grauen verfallenen Fassaden putzt: »Mein Arbeitsplatz ist ziemlich sicher, aber für die 25.000 Mark für das neue Auto hat es gerade so gelangt. Ein paar tausend sind noch als Raten.« Er verdient 1000 Mark, seine Frau nochmal dasselbe dazu. Er hat gerade Urlaub, gestern waren sie »bei den Polen. Jetzt muss ich den Wagen waschen. Bei denen ist es ja so dreckig. Eine richtige Schmutzschicht.«
Walter Müller, 75, Rentner, gelernter Installateur. Er lädt mich in seine Zwei-Zimmer-Wohnung ein, wo er alleine lebt, seine Frau ist in einem Altersheim. Er bewohnt nur noch die Küche, das sei einfacher. Während ich da bin, kommt ein äußerst unsympathischer, schwäbischer Antiquitäten-Händler, der die Wohnung nach Verwertbarem absucht. Um ins Wohnzimmer zu gelangen, muss man erst einen Haufen Gerümpel zur Seite schieben, um überhaupt die Tür zu öffnen. Der Händler wartet mit den Verhandlungen bis ich weg bin.
Gerd Mühlmann, 54, Lagerarbeiter, vier Kinder, seit 1 Jahr arbeitslos. Die Firma, für die er arbeitete, stellte Kartons her. Sie ist pleite. Er rechnet mir vor: Sein ältester Sohn ist 22 und auch arbeitslos. Er selbst bekommt 350 Mark Unterstützung, seine Frau 400 Mark Rente, sein Sohn 350, und dann haben sie noch Kindergeld, drei mal 90, sind 270 Mark. Macht für die fünfköpfige Familie 1320 Mark im Monat. »Da wär ich doch lieber drüben geblieben«, ist sein trockener Kommentar.
Annett Sander, 20, Schlachthof-Verarbeiterin. Noch hat sie Arbeit. Aber sie hat Angst, viele sind schon »auf Null gesetzt«.
10 Jahre Mauerfall
Im Sommer 1998 reiste ich noch einmal durch die sogenannten neuen Bundesländer, um ein mögliches Projekt für unsere Fotografengruppe Bilderberg zu sichten: 10 Jahre nach dem Mauerfall.
Im Vergleich zu den Jahren der Wende fiel es mir sehr schwer, einen Zugang zu finden. Als ob das Besondere, die Identität verloren zu gehen drohte: Die Fußgängerzonen der Städte waren in der Zwischenezeit mit den gleichen Steinen gepflastert wie im Westen, die Parkplätze der Lidl-Märkte sahen genauso aus, und das Licht der Shell-Tankstellen leuchtete in der Nacht in den selben Farben wie in den alten Bundesländern.