17 Jahre fotografische Lehre an der Hochschule Mainz

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Zusammen mit sechzehn Absolventinnen und Absolventen stellt Fotografie-Professor Stefan Enders anlässlich seines Abschieds aus der Hochschule im Mai im Lux-Pavillon aus. Die Fotos dieses Artikels geben einen ersten Eindruck von der Ausstellung. Für unser Hochschul-Magazin baten wir ihn, einen kritischen Blick auf die Entwicklung der Fotografie zu werfen. Wo standen wir vor 17 Jahren, wo stehen wir heute?
Veröffentlicht im Hochschulmagazin FORUM im Juni 2022

Fotos ohne Erkenntniswert

„In seiner Brieftasche bewahrt Victor auch eine Fotografie dieses verstorbenen Vaters auf, er hat sie aus einem Album entwendet, das aus jener Zeit stammt, als es noch welche gab, als das Zuviel an Fotos die Fotografie noch nicht erschlagen hatte.“ – Zielt der französische Schriftsteller Hervé Le Tellier mit diesem Satz aus seinem aktuellen Roman „Die Anomalie“ auf die uns täglich umgebende Bilderflut? Zerstört dieses „Zuviel an Fotos“, diese fotografische Allgegenwärtigkeit, die einerseits von außen auf uns einstürzt, die wir im gleichen Maße aber auch mit unseren eigenen Smartphones selbst produzieren, den Wert und die Bedeutsamkeit der Fotografie? Beraubt es uns der Fähigkeit, Fotografie noch wahrzunehmen und zu hinterfragen?
Eigentlich ließe sich ganz anders argumentieren. Noch nie in der Geschichte haben so viele Menschen so oft fotografiert, noch nie wurden so viele Bilder geschaffen, geteilt, kommuniziert. Daraus könnte eine immense fotografische Kompetenz entstanden sein, ein gesellschaftlich nie dagewesenes Vermögen der Bild-Reflexion wie auch der eigenen fotografischen Gestaltungkraft. Lernt die Menschheit nicht gerade, ihre Bedürfnisse fotografisch auszudrücken, schult dieser permanente Umgang mit Bildern nicht einen kritischen Blick auf das mediale fotografische Bild?
Diese Frage ist alles andere als einfach zu beantworten. Der Blick auf den Einsatz des fotografischen Bildes in den Medien lässt weniger Gutes vermuten. Untersucht man die uns täglich begleitenden Nachrichten-Seiten selbst seriöser Medien wie Tagesschau.de oder Spiegel online, so stellt man fest: Keine Nachricht, keine Meldung existiert heutzutage ohne ein begleitendes fotografisches Bild. Gleichzeitig tendiert der aus diesen Fotos resultierende Erkenntniswert gegen Null. An der aktuellen Berichterstattung über die Corona- Pandemie lässt sich dieser Sachverhalt gut erkennen: Eine endlose Aneinanderreihung belangloser Klischeebilder, eine tägliche Wiederholung von Nahaufnahmen aus Laboren, von Spritzen, Impf-Injektionen oder unscharfen Krankenhausfluren. Bilder ohne jeglichen journalistischen oder inhaltlichen Wert, vollkommen austauschbar. Fotografien verkommen zu einem farbigen Grafik-Element. Man darf aber dabei jedoch nicht übersehen, dass auch diese Fotografien unser Bild von der Welt und der Gesellschaft prägen. Eine stereotype Vereinfachung, welche sich durch den Einsatz von Bildern manifestiert.
Dass man besonders in digitalen Medien immer seltener auf eine intelligente fotografische Bildsprache stößt, ist auch den technischen Umständen geschuldet: Auf Smartphones werden Fotografien nur noch in der Größe weniger Zentimeter konsumiert, der Wahrnehmungsmoment vor dem Weiterwischen ist oft auf den Bruchteil einer Sekunde reduziert – kein Raum für komplexe Bildideen.


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Das Bild, das wir uns von der Welt machen, ändert sich

Vielleicht geben auch Erfahrungen aus der Lehre, insbesondere mit jungen Studienanfängern, Aufschluss über die Frage nach der fotografischen Kompetenz in unserer Gesellschaft. Seit einigen Semestern erlebe ich bei Studentinnen und Studenten zu Beginn des fotografischen Grundkurses eine Veränderung. Während das Interesse an Fotografie weiterhin sehr groß ist, scheint das Reflexionsvermögen über das Medium selbst abzunehmen. Die eigene Rolle als Fotografin oder Fotograf zu hinterfragen, fällt immer schwerer. Ebenso fehlt zunehmend ein Verständnis über grundlegende Formen der fotografischen Bildsprache.
Im vergangenen Wintersemester stellte ich ein weiteres Phänomen fest: 95 Prozent aller abgegebenen Bilder von den Studierenden wurden plötzlich nur noch im Hochformat fotografiert. Im ersten Moment ließe sich dies der Frage des persönlichen Geschmacks zuordnen. Doch beim Erlernen einer Fotoreportage, bei der es um das situative Beschreiben geht, ist diese Entscheidung bedeutsam. Denn das für die Reportage so wichtige Verhältnis von Mensch und Raum lässt sich in einem Hochformat viel schwerer darstellen. Das menschliche Gesichtsfeld erfasst durch unsere beiden Augen in der Horizontalen einen Bereich von ca. 180°, die menschliche Wirklichkeitswahrnehmung entspricht also einem extremen Panoramaformat. Nicht ohne Grund haben sich im Kino Breitwandfilme, bis hin zum CinemaScope-Verfahren der 50er Jahre durchgesetzt. Im Fernsehen gilt heute das Format 16:9 als Standard. Doch selbst beim Drehen von Bewegtfilmen taucht nun der studentische Wunsch auf, Filme in Hochformat zu realisieren.
Die Erklärung dafür ist einfach: Zum einen lassen sich Querformate in den sozialen Medien, die primär über Smartphones wahrgenommen werden, schlechter präsentieren. Zum anderen verleitet aber auch die Handhabung des Fotografierens mit dem Smartphone selbst dazu, nur noch in fotografischen Hochformaten „zu denken“. Das Bild, das wir uns von der Welt machen, ändert sich. Ein Blick auf die Kunst- und Fotografie- Geschichte zeigt, dass technische Entwicklungen schon immer Wahrnehmung und Inhalte verändert und geprägt haben. Das heißt, man kann das eben beschriebene Phänomen erst einmal wertfrei konstatieren.
Festzustellen bleibt aber, dass Smartphones, insbesondere mit ihrer permanenten Anbindung an das Internet, genauso wie die sozialen Medien einen weitaus bedeutsameren Einfluss auf die menschliche Wahrnehmung der Wirklichkeit haben, als man bisher wahrhaben wollte.

In meiner Probevorlesung vor 17 Jahren war ich eingeladen, über die Entwicklung der Fotografie im Zeitalter der Digitalisierung zu referieren. Die fotografische Wirklichkeit schien Anfang der 2000er Jahre auf den Kopf gestellt. Die Bildbearbeitungssoftware Photoshop von Adobe erlaubte es nun plötzlich, mit einer viel größeren Leichtigkeit als zuvor Manipulationen an Fotografien vorzunehmen. Für meinen Vortrag hatte ich kleine Veränderungen an bekannten Bildern der Fotografie-Geschichte des 20. Jahrhunderts vorgenommen und stellte die provokante Frage: Wie wäre es, hätten die damaligen Künstler und Künstlerinnen nur mit Hilfe von Photoshop diese formal vollendeten Bilder erstellen können? Wäre das ein Problem, wie würden wir das empfinden?

Die Frage nach dem dokumentarischen Charakter des fotografischen Bildes, insbesondere im journalistischen Kontext, musste durch die digitalen Manipulationsmöglichkeiten neu diskutiert werden. Welche Ethik-Standards gelten bei der Bildbearbeitung, welche Eingriffe sind erlaubt, was stellt eine Veränderung der journalistischen Wahrheit dar?
Trotz des schon immer vorhandenen Bewusstseins über die Subjektivität von Fotografie, sei es durch den gestalterischen Einfluss des Fotografierenden oder auch durch die mögliche Inszenierung der Situation vor der Kamera, hat die Digitalisierung zu einer grundlegenden Erschütterung des fotografischen Verständnisses geführt. Denn auf die Verlässlichkeit des mechanisierten Abbildungsprozesses, zumindest auf den Teil, nachdem der Auslöser gedrückt worden war, rechnete man bis dato. Nicht ohne Grund definierten in dieser Zeit viele Fotoagenturen ihren ethischen Kodex neu. „Associated Press“, eine der größten Agenturen der Welt, formuliert es in seinen Grundsätzen: „Auf keinste Weise verändern oder manipulieren wir digital den Inhalt des Fotos… Kein Element sollte digital von einem beliebigen Foto entfernt oder hinzugefügt werden.“


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Fake-News-Geschichte über Fake-News-Produzenten

Während sich die Diskussion bis dato um die Frage digitaler Eingriffe und Veränderungen drehte, veränderte das Jahr 2021 die fotografische Welt grundlegend.
Jonas Bendiksen, Mitglied der renommierten Fotografengruppe Magnum, reiste für eine Reportage in die nordmazedonische Provinzstadt Veles, in der sich während der US-Präsidentschaftswahlen 2016 ein Zentrum für die Produktion von Fake News etablierte. Obwohl sie möglicherweise zur Wahl von Donald Trump beigetragen haben, ging es den meist jugendlichen Akteuren gar nicht um die inhaltliche Verbreitung von Fake News und Verschwörungserzählungen. Sie benutzten Hunderte von sogenannten Clickbait-Webseiten, die sich als amerikanische Nachrichtenportale ausgaben, ausschließlich dazu, um hohe Zugriffszahlen – clicks – und damit Werbeeinnahmen, also Geld, zu generieren.
Magnum-Fotograf Bendiksen wiederum benutzte genau diese Thematik, um auf die aktuellen Gefahren des Journalismus aufmerksam zu machen. Er fuhr nach Nordmazedonien, fotografierte dort aber nur leere Räume, Straßen und Plätze. Zurück in seinem Studio nutzte er die Zeit des Corona-Lockdowns, um sich intensiv in die Software der Computerspiel- und Filmindustrie einzuarbeiten, mit der man realistische 3D-Modelle von Menschen erstellen kann. Er animierte seine Modelle, drehte, beleuchtete und positionierte sie in seinen leeren Bildern aus Veles. Alle Menschen dieser Reportage, die er dann in einem Fotobuch veröffentlichte, sind komplett computergenerierte, mit Hilfe künstlicher Intelligenz erschaffene Avatare. Auch beim Text benutzte er dieselbe Methode: Er speiste einige der wenigen aus der Presse bekannte Zitate der realen Fake News-Produzenten aus Veles in ein KI-Programm ein, das dann selbständig daraus ganz neue Statements der Protagonisten produzierte. Bendiksen über die gesamten Zitate seines Buches: „Sie sind gefälscht, vom Computer erfunden. Kurz gesagt, es wurde eine Fake-News-Geschichte über Fake-News-Produzenten.“

Bendiksen bewarb sich mit The Book of Veles beim Festival Visa pour l’Image in Perpignan, dem weltweit wichtigsten Ausstellungsort für Fotojournalismus. Dem Kuratoren-Team des Festivals, allesamt Koryphäen ihres Gebietes, die die Highlights des besten Fotojournalismus des Jahres auswählen, fiel die Fälschung nicht auf. Bendiksen wurde die Ehre einer abendlichen Vorführung zuteil, seine mit Hilfe künstlicher Intelligenz produzierte Reportage wurde unentdeckt zwischen den anderen Fotostrecken angesehener Fotografinnen und Fotografen präsentiert. Erst danach deckte er die Fälschung auf.
Bendiksen: „In der Vergangenheit haben digital manipulierte Bilder normalerweise Fotografien als Grundlage verwendet – eine fortgeschrittene Form des Ausschneidens und Einfügens. Ich begann mir die Frage zu stellen, wie lange wird es dauern, bis wir beginnen, dokumentarischen Fotojournalismus zu sehen, der keine andere Grundlage in der Realität hat als die Fantasie des Fotografen und eine leistungsstarke Computergrafikkarte? Dieses Projekt war für mich eine Art Test, wohin die Reise geht … Das wird ein immenses gesellschaftliches Problem, etwa für die Funktionsweise von Demokratien.“

Wo sind wir also mit der Fotografie im Jahr 2022 gelandet? Welchen Sinn, welche gesellschaftliche Bedeutung kann das Medium unter diesen Umständen noch erfüllen?

Ich fürchte, ich kann diese Frage nicht beantworten. Es erscheint jedoch äußerst zweifelhaft, dass wir Fotografie weiterhin als dokumentarisches Medium, so wie wir es aus dem 20. Jahrhundert kennen, so wie es bis heute im Journalismus verwendet wird, benutzen können. Was bleibt? Eine freie künstlerische Bildwelt, die – ähnlich wie die Malerei – ohne einen dokumentarischen Aspekt ausschließlich dem subjektiven Gestaltungswunsch des Fotografierenden zuzuschreiben ist? Oder möglicherweise sogar komplett von Künstlicher Intelligenz und Algorithmen erschaffen worden ist?

Dem steht in einem unauflösbaren Dilemma der tägliche Wunsch der weltweit Fotografierenden, der Milliarden von Smartphone-User entgegen, ein authentisches Bild der Welt zu erschaffen: „Seht her, so war’s“. Allen skeptischen Einwänden zum Trotz scheint die Menschheit noch immer dem Wirklichkeitsversprechen der Fotografie, das ihr seit ihrer Erfindung anhaftet, zu vertrauen. Als ob wir durch den Griff zur Kamera, durch den Versuch, einen authentischen Moment der Wirklichkeit festzuhalten, der Vergänglichkeit der menschlichen Existenz etwas entgegensetzen könnten.

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