Blicke auf die Wirklichkeit
Ein Essay zur Situation der dokumentarischen Fotografie
Veröffentlicht im Feuilleton der Silvester-Ausgabe der AllgemeinenZeitung Mainz, 31.12.2010
Wir kennen sie alle; die Bilder, die Fotos, die sich in unser kollektives Gedächtnis eingegraben haben: Das der jungen Frau, die 1967 in Berlin dem sterbenden, am Boden liegenden Studenten Benno Ohnesorg den Kopf hält, oder das des von Napalm-Bomben verbrannten, nackten vietnamesischen Mädchens, das schreiend dem Fotografen entgegen rennt. – Bilder, die zum Symbol für historische Epochen geworden sind, und die teilweise sogar, durch ihre Wirkung in den Massenmedien, mit zur Veränderung politischer Verhältnisse beigetragen haben.
Aber nicht nur solche Fotos von bedeutenden Ereignissen oder Kriegen, auch Bilder des Alltagslebens haben unsere Sicht auf die Welt entscheidend geprägt. Henri Cartier-Bresson, einer der ganz großen Fotografen, hat dabei den »entscheidenden Augenblick« betont, in dem es ihm gelingt, als unbemerkter Beobachter einen unverstellten Blick auf das Leben zu werfen. Seine stillen, auf den Punkt gebrachten Beobachtungen, wie z.B. das der kleinbürgerlichen, französischen Familie, die am Ufer der Marne frühstückt, sind zu Ikonen geworden. Der dokumentarische Ansatz hat sich in der Fotografie des 20.Jahrhunderts als der wichtigste herauskristallisiert. Der Wunsch, etwas über das Leben zu erfahren, Geschichten aus der Wirklichkeit erzählt zu bekommen, entstammt einer langen kulturellen Tradition unserer Zivilisation. Der große STERN-Fotograf Thomas Hoepker hat es in einem Satz zusammen gefasst: »Nichts ist interessanter als die Wirklichkeit.« Dabei fühlten sich die Fotografen, insbesondere wenn sie gesellschaftliche Missstände aufzuzeigen versuchten, immer zu großem Respekt und Achtung gegenüber den Menschen verpflichtet.
In jüngster Zeit hat sich für die so arbeitenden Fotografen etwas Entscheidendes geändert. Ich selbst habe für den STERN viele Jahre Reportagen im In- und Ausland fotografiert. Ich erinnere mich, wie wir in früheren Zeiten angesprochen wurden: »Haben Sie mich gerade fotografiert? Für wen denn? Wann erscheint das, kann ich ein Exemplar bekommen?« – ein gewisser Stolz bei den Fotografierten war deutlich spürbar. Heute sieht die Situation anders aus. Bei meiner letzten Reportage in diesem Sommer wurde ich in einer ganz alltäglichen Situation angefahren: »Sie haben mich gerade fotografiert! Das dürfen Sie nicht, löschen Sie sofort das Bild!« .
Nachdem das Medium Fotografie in den letzten 10 Jahren von den Diskussionen bzgl. der digitalen Veränderungen und deren Auswirkungen auf die Authentizität geprägt war, scheint sich nun eine ganz anderen Problematik für die journalistische Fotografie aufzutun: Menschen in unserem Land wollen sich von dokumentarisch arbeitenden Fotografen nicht mehr abbilden lassen.
Nachdem das Medium Fotografie in den letzten 10 Jahren von den Diskussionen bzgl. der digitalen Veränderungen und deren Auswirkungen auf die Authentizität geprägt war, scheint sich nun eine ganz anderen Problematik für die journalistische Fotografie aufzutun: Menschen in unserem Land wollen sich von dokumentarisch arbeitenden Fotografen nicht mehr abbilden lassen.
Dies hat nicht unbedingt etwas mit der Rechtslage hinsichtlich des Persönlichkeitsrechtes, also dem Recht des Abgebildeten an seinem Bild, zu tun. Vielmehr hat ein unglaublicher »Hype« die Gesellschaft erfasst: »Fotografieren Sie mich bloß nicht!« Ist es einfach ein verständliches Misstrauen auf Grund einer Überhand nehmenden Medienwelt oder die kritische Reaktion auf Entwicklungen wie Google Street View?.
Interessanterweise ist die Fotografie gleichzeitig in unserer Gesellschaft so präsent wie nie zuvor. Alle, die »Fotografieren Sie mich bloß nicht!« rufen, haben mit ihrem Handy immerzu eine Kamera dabei. Noch nie wurde soviel fotografiert wie heute: Ob gegenseitig, oder auch sich selbst. Bilder werden wahllos per Internet ausgetauscht. Ein Paradoxon offenbart sich: Während man von einem seriös arbeitenden Foto-Journalisten nicht mehr fotografiert werden will, scheint es gleichzeitig eine Selbstverständlichkeit, sich gegenseitig in den absurdesten Situationen abzulichten und diese intimen, oftmals kompromittierenden Bilder auf Internet-Plattformen wie Facebook öffentlich zur Schau zu stellen. Sind die, die so laut aufschreien und sich auf Persönlichkeitsrechtsprozesse Prinzessin Carolines berufen, nicht dieselben, die mit ihrem Handy bewaffnet, ungeniert als »BILD-Leser-Reporter« Prominenten in den Weg springen, um sie rücksichtslos abzulichten? Am Besten noch mit einem Foto, auf dem sie sich selbst neben den Promis ins Bild mogeln. Gleichzeitig setzt man alles daran, mit Hilfe einer der unzähligen Casting- und Realityshows berühmt zu werden – keiner Peinlichkeit aus dem Wege gehend, um wenigstens einmal ins Fernsehen zu gelangen. Es stellt sich die berechtigte Frage, ob man in unserer Gesellschaft Google Street View wirklich kritisch hinterfragen will: Eigentlich ist es doch äußerst reizvoll, endlich auch im Internet dem Nachbar hinter die Gardine schauen zu können..
Wohin führt uns diese Entwicklung? Wenn Foto-Journalisten keine unverstellten Blicke mehr auf unsere Wirklichkeit werfen können, werden wir in unseren Magazinen und Tageszeitungen nur noch von gestellten und inszenierten Bildern umgeben sein. Bilder, die uns aus dem echten Leben erzählen, werden der Vergangenheit angehören. Gedruckt werden dann Fotos, so wie jeder sich selbst gerne sehen möchte: glatt, sauber, perfekt – vor allen Dingen aber eines: langweilig..
STEFAN ENDERS hat viele Jahre für internationale Magazine fotografiert. 2005 wurde er zum Professor für Fotografie an die Fachhochschule Mainz berufen. Soeben ist sein Fotoband FRONTAL erschienen: Flüchtige, unverstellte Begegnungen auf der Straße. Bilder von Menschen, nah und unmittelbar fotografiert.